I Ging - Tao - Leben


Direkt zum Seiteninhalt

Was ist das I Ging, was kann das I Ging ?


Georg Zimmermann


Das I Ging, Buch der Wandlungen, entzieht sich jeder gängigen Zuordnung. Es ist keine Philosophie, keine Ethik, keine Kosmologie, kein religiöser Offenbarungstext, keine Mythologie, sondern sozusagen alles in einem. Mit seinen Strichkombinationen und seiner urtümlichen Bildsprache erhebt es den Anspruch, sowohl den Kosmos wie auch jeden einzelnen Menschen in seinem schicksalhaften Wandel zu erfassen. Somit kann man es allgemein als »Weisheitsbuch« bezeichnen. Andererseits kann das Buch zu allen persönlichen Lebenssituationen »befragt« werden, ist also zugleich eine Art »Orakelbuch«.
Der Titel setzt sich zusammen aus
I (in heute üblicher Umschrift Yi) = »Wandel« und Ging (Jing) = kanonisches Buch. Die ursprüngliche Bedeutung des Schriftzeichens für I ist »Chameleon«, man kann in der älteren Schriftform noch gut ein Tier heraus sehen. Darin widerspiegelt sich eine Grundhaltung der chinesischen Kultur, dass in dieser Welt alles im Wandel begriffen ist. Ein spitzfindiger Geist, vertrat die Ansicht, dass das Rad eines fahrenden Wagens nie den Boden berühre. Sobald man nämlich sagt: »Jetzt berührt es den Boden«, ist dieser Moment schon wieder vorbei. Es gibt nur etwas, das unwandelbar ist, und das ist der Wandel selbst!
Gegliedert ist das Buch in sozusagen 64 Kapitel, unter Titeln wie
Die Annäherung, Gemeinschaft mit Menschen oder Der Durchbruch, womit jeweils eine Art »Lebensstation« oder »Lebenssituation« angedeutet wird. Keine dieser Situation ist nur positiv oder nur negativ und jede wird als entwicklungsfähig aufgefasst. Diesen Titeln entspricht je ein so genanntes »Hexagramm«, einem Gebilde, das sich aus sechs waagrechten, übereinander gestellten Strichen unterschiedlicher Art zusammensetzt, aus geteilten und ungeteilten . Die geteilten gelten als Yin-Striche und die ungeteilten als Yang-Striche. Dadurch stellen die Hexagramme je ein charakteristisches Zusammenspiel der beiden kosmischen Grundkräfte dar, des ruhend bewahrenden Yin und der schöpferisch bewegenden Yang. Diesen Hexagrammen sind knappe und ebenso urtümliche Sätze zugeordnet, die man allgemein »Das Urteil« nennt. Beispielsweise stehen unter dem Hexagramm Der Fortschritt folgende Sätze: »Beim Fortschritt wird der Vasall, der Gedeihen schafft, mit einer grossen Menge Pferde geehrt. Am hellen Tag gibt es drei Empfänge.« Jedem einzelnen der je sechs Striche werden ebenfalls kurze Sätze zugeordnet. Zwei Beispiele: »Dem Vogel verbrennt sein Nest. Der Wanderer lacht erst, darauf klagt und weint er.« »Er dringt ein ins Loch. Da kommen drei nicht eingeladene Gäste.«

Der Sinologe Richard Wilhelm (1873?1930), dem das I Ging zentrales Anliegen war und dessen Übersetzung aus dem Jahre 1924[1] bis heute mit Abstand die beste geblieben ist, charakterisiert in einem längeren einführenden Zeitungsartikel[2] das Buch meines Erachtens sehr treffend:
»... So war das Buch ursprünglich nichts anderes als eine Sammlung von Orakelzeichen von je drei Linien, die man später durch Vereinigung von je zwei solcher Zeichen auf 64 vermehrt hat. Allein diese Sammlung von Orakelzeichen enthält Möglichkeiten, die sie weit über das hinaushoben, was sonst unter Orakelbüchern bekannt ist. (...) Und so wurde aus dem Orakelbuch gleichzeitig ein Weisheitsbuch. Die verschiedenen Situationen des menschlichen Lebens fand man in den verschiedenen Beziehungen seiner Linien angedeutet. Und aus diesen Beziehungen heraus konnte der Eingeweihte die Gesetze dieser lebendigen Situation ablesen, um sich auf diese Weise, indem er sein Handeln sinngemäß gestaltete, zum Herrn der jeweiligen Situation zu machen.«
Die genannten urtümlichen Sätze mögen zunächst befremdend erscheinen, je mehr man sie aber »in den verschiedenen Beziehungen seiner Linien« ? gemeint sind die Strichkombinationen ? einlebt, desto mehr Gewicht und konkreten Sinn bekommen sie. Sie bilden zusammen mit den Hexagrammen und den Titeln die älteste Form des Buches. Wann und durch wen es entstanden ist, lässt sich nicht sagen. Man kann aufgrund der archaischen Sprache dieser ältesten Schichten und der vagen Nennung historischer Tatsachen nur erahnen, dass es etwa im ersten Viertel des ersten vorchristlichen Jahrtausends entstanden ist. Das ist einige Zeit vor einer philosophisch-reflektiven Durchdringung von Welt und Gesellschaft. Die älteste bekannte Erwähnungen stammt aus dem 4. Jh. v. Chr. In diesen wird es nicht als Orakelbuch erwähnt, sondern man ordnete Personen oder Ereignisse in I-Ging-Sprüche ein, im Sinne von: »Das ist, wie es im I Ging heisst...«
Die Zeit der Entstehung des I Ging stand am allmählichen Übergang von einer nur vage fassbaren matriarchal zu einer patriarchal geprägten Gesellschaft, die sich in das jahreszeitliche Geschehen eingleiderte. In dieser noch einfachen vor allem bäuerlichen Gesellschaft entwickelte sich aus dem konkreten Wechsel der Jahreszeiten die Yin-Yang-Auffassung: Die warme, helle Jahreshälfte entspricht Yang, die kalte, dunkle Yin, was auch in der Geschlechterzuordnung seinen Niederschlag fand: Die Arbeitszuteilung der Männer bestand vor allem in der Bestellung der Felder, deren Hauptsaison die warme Zeit ist, diejenige der Frauen im Spinnen und Weben, das nach der Ernte hauptsächlich in der kalten Zeit stattfand. In dieser und auch späterer Zeit fühlten sich die Menschen eingebettet zwischen Himmel und Erde. Daraus entwickelte sich sowenig die Kategorisierung von Geist und Materie wie diejenige von Gut und Böse; Geister und Götter lebten mit den Menschen zusammen, sie waren nur nicht sichtbar, und anstelle des Gegensatzes von Gut und Böse stand derjenige von Ordnung und Wirrnis, von Ausgewogenheit und Ungleichgewicht. Diese Grundauffassungen sind auch für das I Ging charakteristisch.
In der Zeit vielleicht vom fünften bis dritten vorchristlichen Jahrhundert kamen weitere teils erklärende und kommentierende Texte, teils solche kosmologischer Natur zum ursprünglichen Korpus des I Ging hinzu. Auch von ihnen sind keine Verfasser bekannt.
In einem dieser Texte, den »Erklärungen der Trigramme« wird erstmals in einem überlieferten Text von den acht Trigrammen gesprochen, d.h. von den acht möglichen Kombinationen aus je drei Strichen, die als die Grundlage der Hexagramme gelten, d.h. die 64 Hexagramme werden als Kombinationen von je zwei Trigrammen aufgefasst. Das besagt allerdings nicht, dass die Trigramme nicht wesentlich älter sein können; möglicherweise gab es sie sogar noch vor den Hexagrammen. ? Die Tradition schreibt die Erfindung der acht Trigramme dem mythologischen Herrscher und Kulturheroen Fuxi zu, der angeblich am Anfang des dritten vorchristlichen Jahrtausends gelebt haben soll. ? Jedenfalls passt sich diese Auffassung von je zwei Trigrammen in die Worte zu den einzelnen Strichen sehr gut ein. Diese acht tragen »Eigen«-Namen, die als solche eigentlich unübersetzbar sind, und werden mit Bildern aus dem Naturgeschehen charakterisiert. Darunter sind die sinnvollen Übersetzungsvorschläge von Wilhelm gebracht:


Qian, der Himmel, oder das Schöpferische, ist das reine Yang-Trigramm und deutet auf Stärke, Klarheit und Entschiedenheit. Das reine Yin-Trigramm, Kun, die Erde oder das Empfangende zeigt Offenheit für alles, aber auch Erdenschwere. In Zhen, dem Donner, oder dem Erregenden, Erschütternden wühlt sozusagen der unterste Yang-Strich die träge Erde über sich auf. Sun der Wind, oder das Eindringende, dem auch das Bild »Baum« zugegeben wird, zeigt unten eine gute »Verwurzelung« in der Erde und dehnt sich zugleich nach oben aus; als »Wind« bedeutet es etwas, das überall sanft, aber unerbittlich eindringt. Kan, das Wasser, oder das Abgründige zeigt sich nach aussen träge und formbar, hat aber in der Mitte seine Stärke; gemeint ist fliessendes Wasser, das bis in den tiefsten Abgrund fliesst, aber dann wieder hinaus findet. In Li, dem Feuer, oder dem Haftenden ist die Mitte offen und ruhig, d.h. das Yang findet hier sein ruhendes und nährendes Zentrum. In Gen, dem Berg, oder dem Stillehalten hält der oberste Yang-Strich die »Erde« unter sich zusammen, er birgt etwas in sich. In Dui, dem See, oder dem Heiteren hat sich von aussen her ein gegebenes, träges »Erdenelement« in den »Himmel« hineingeschoben, daher bedeutet es ein unmittelbares Öffnen, ein Hinwenden. Wenn der Wind oder Baum sich nach allen Seiten ausdehnt, so zeigt sich beim See das Umgekehrte: Er zeiht an sich und nimmt in sich auf.
In demselben Text erscheint folgender Satz:
»Die [Trigramm-]Gottheiten sind geheimnisvoll in allen Wesen und wirken in ihnen.«
[3] Im Anschluss wird gesagt, wie jedes der sechs gemischten Trigramme, also ausser Qian und Kun, die Himmel und Erde zugeordnet werden, in die Welt einwirkt. Es wird also zum Ausdruck gebracht, dass die Trigramme keine menschliche Erfindung sind, sondern allgegenwärtige geistige Wesenheiten. Damit wird dem I Ging wenn nicht ein religiöser, so doch kosmologischer Charakter unterlegt.
Ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert entbanden sich die der zentralen königlichen Macht unterstellten Lehensstaaten mehr und mehr derselben. Das führte allmählich zu Rivalitäten zwischen diesen Staaten, die sich in langwierige kriegerischen Auseinandersetzungen ziehen liessen. Ende 3. Jh. v. Chr. gelang es dem Staat Qin, das gesamte Reich unter sich zu einigen. Sein Herrscher nannte sich nun der
Erste Kaiser. Das rigoros geführte vereinheitlichte Reich überlebte ihn zwar kaum, doch blieb unter sich ablösenden Dynastien die Einheit mit einigen Unterbrüchen bis heute bestehen. Dies bewirkte das Ende des Lehenssystems und den Beginn des Beamtenstaates.
Die das Qin-Reich ablösende Han-Dynastie sah sich genötigt, ihrem Beamtenstaat eine ideologische Grundlage zu geben, die sie fim Konfuzianismus fand. Diese Ideologie fusst wesentlich auf der Vorgabe einer streng hierarchisch-patriarchalisch gegliederten Gesellschaftsordnung. Nun wurde im Verlaufe des 1. Jh. v. Chr. das I Ging zum wichtigsten konfuzianischen Klassiker erklärt – tatsächlich hat Konfuzius (551–479) höchst wahrscheinlich das I Ging nicht einmal gekannt. Nun sollte er es redigiert und sämtliche späteren Textschichten verfasst haben. Was genau den Ausschlag zu dieser Entscheidung gegeben hat, ist nicht ganz klar. Gründe mögen gewesen sein, dass das I Ging in dieser Zeit geschätzt wurde, und vor allem, dass es möglich war, diese Ideologie in den offen lassenden Text des I Ging hinein zu interpretieren. Das brachte es mit sich, dass von nun an das I Ging wie eine Art chinesische Bibel galt, die jeder kannte. In der Zeit bis ca. 200 n. Chr. wurden die wichtigsten Interpretationsgrundlagen zum Verständnis der einzelnen Sätze im Zusammenhang mit dem ganzen System der Trigramme und Hexagramme geschaffen. Teils überbordeten sie soweit, dass sozusagen alles mit allem erklärt werden konnte.
Eine grundlegend andere Interpretation, die fortan einen starken Einfluss ausübte, lieferte der Gelehrte Wang Bi (226–249). Er lebte in einer Zeit des politischen Zerfalls und Chaos', in dem niemand an ideologischen Rechtfertigungen interessiert war. Die Welt war an sich schlecht, also zog man sich am besten in eine Welt der »wahren Ideen« zurück, wobei auch er Intrigen nicht entgehen konnte, die ihm seinen frühen Tod brachten. Für ihn galt es, aus den konkret gegebenen Bildern die dahinter stehenden Ideen zu erfassen. Er drückt dies so aus:
»Die Bilder gehen aus den Ideen hervor. Die Worte machen die Bilder klar. Um die Ideen vollständig auszudrücken, gibt es nichts besseres als die Bilder. Um die Bilder vollständig auszudrücken, gibt es nichts besseres als die Worte. Die Worte sind aufgrund der Bilder entstanden. Daher kann man die Bilder schauen, indem man die Worte untersucht. Die Bilder werden von den Ideen beherrscht. Daher kann man die Ideen schauen, indem man die Bilder untersucht. Die Ideen werden durch die Bilder vollständig erfasst und die Bilder durch die Worte klargemacht. Daher haben die Worte den Zweck, die Bilder zu erklären; hat man die Bilder erfasst, so vergisst man die Worte. Die Bilder haben den Zweck, die Ideen zu erkunden; hat man die Ideen erfasst, so vergisst man die Bilder. Ebenso hat das Folgen der Spur eines Hasen den Zweck, ihn habhaftig zu werden. Hat man ihn gefasst, so vergisst man die Spur. Die Fischreuse hat den Zweck, die Fische habhaftig zu werden. Hat man sie gefasst, so vergisst man die Reuse. Nun denn, so sind die Worte die Spur zu den Bildern. Die Bilder sind die Reuse für die Ideen. Wer daher bei den Worten stehen bleibt, wird nicht die Bilder erfassen, und wer bei den Bildern stehen bleibt, wird nicht die Ideen erfassen.«
Das erinnert an Platons Ideenwelt oder in Jungscher Auffassung an die Archetypen.
Im späteren meditativ ausgerichteten Taoismus werden die Prinzipien vor allem der Trigramme und Hexagramme zur Erklärung des Meditationsprozesses herangezogen. In Schriften etwa ab dem achten nachchristlichen Jahrhundert, wird ein spezifisches Menschenbild und damit im Zusammenhang stehende Meditationsprozesse anhand der Trigramme veranschaulicht. In diesen Prozessen geht es wesentlich darum, sich zu einem ursprünglich »wahren Sein« umzuwenden, welches durch das Leben im irdischen Dasein verdunkelt worden ist.
Die Anschauung, dass der Mensch ursprünglich einer puren, reinen Welt angehörte, die er mit der Geburt, genauer gesagt schon ab der Zeugung, verlässt, wird, um ein Beispiel der Verwendung von I-Ging-Prinzipien zu zeigen, folgendermaßen dargestellt:

Qian drückt den ursprünglichen reinen Zustand aus, da der Mensch sozusagen »noch im Himmel« ist. Das Wesen des Menschen ist also noch vor der Zeugung im reinen Yang aufgehoben und fern von der Erde (Kun). Kommt er auf die Erde, so trennt sich das ursprünglich reine »Ur-Wesen«, indem sich die Kräfte von Yin und Yang durchmischen, in zwei auf. Im Bilde ausgedrückt begattet der Himmel die Erde, wodurch eine schaffende, lebendige Kraft die Erde erfasst, dargestellt in der Umwandlung zu Kan. Dadurch hat der Himmel (Qian) seine schaffende Kraft hingegeben und in seiner Mitte anstelle davon die duldende Offenheit von der Erde aufgenommen: Aus Qian wird Li. Li, das Feuer steht für den Geist des Menschen. Durch die Außenwelt kommt er in Regung, wird entzündet. Diese Vermischung mit dem Irdischen ist zugleich notwendig, denn sonst könnte er sich damit gar nicht verbinden. Aber er kann nur dadurch entbrennen, dass er sich auf des Menschen innewohnende, aufbauende Lebenskraft abstützt, die mit dem Trigramm Kan symbolisiert wird. Damit werden dem Menschen zwei Grundprinzipien zugeordnet, ein aufbauendes, dargestellt mit dem Wasser, und ein abbauendes, das Feuer. In gewissem Sinne sind aber beide feurig, doch drückt sich dieses Feuer in der Mitte von Kan als tiefverborgene Willenskraft aus. Im ganzen Meditationsprozess geht es nun darum, die beiden Feuer wieder zu vereinigen, indem die schöpferische Willenskraft aus der Dunkelheit hinaufgehoben wird.


Im so genannten Neokonfuzianismus, einer Strömung ab dem 11. Jh., die sich gegen ein fast über tausend Jahre vor allem buddhistisch und taoistisch geprägtes Denken richtet, wird das I Ging wesentlich für kosmologische Spekulationen herbeigezogen. In dieser Zeit entstehen auch zahllose Diagramme, in denen die Trigramme und Hexagramme in allen nur erdenklichen Weisen angeordnet werden. Man stützte sich hierbei vor allem auf einen der späteren ins I Ging aufgenommenen Texte, der auch einige kosmologische Spekulationen enthält, auf den Xici, zu Deutsch etwa »Beigefügte Worte«[5]
Hierbei geht es gerade um eine umgekehrte Betrachtungsweise wie im Taoismus: An die Stelle des Bestrebens von sozusagen unten nach oben, geht es um eine spekulative Schau von oben nach unten. Es sollen zunächst die kosmischen Prinzipien erfasst werden, damit man ihnen dann in der weltlichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit nachfolgen kann.
Im Westen erschienen ab dem 18. Jh. einige Übersetzungen des I Ging in Lateinisch, Französisch und Englisch. Sie alle wirken aber kaum über einen sinologischen interessierten Kreis hinaus, und der war damals sehr klein. Erst durch die Übersetzung des schon erwähnten Richard Wilhelm kam es allmählich zu einem breiteren Interesse am I Ging. Das liegt vor allem daran, dass sich Wilhelm ganz in das I Ging einlebte und es sowohl als Weisheits- wie als Orakelbuch ernst nahm. Allerdings blieb dies bis in die 50er-Jahre bescheiden. Insbesondere zwei Persönlichkeiten haben dieses Interesse gefördert: Carl Gustav Jung und Hermann Hesse. Seit sich Jung mit Wilhelm 1921 befreundet hatte, begleitete ihn das I Ging. Er hob die Bedeutung dessen hervor, indem er in seiner Gedächtnisrede für Wilhelm 1930 sagte:
»Wem, wie mir, das seltene Glück zuteil geworden ist, in geistigem Austausch mit Wilhelm die divinatorische Kraft des ›I Ging‹ zu erfahren, dem kann es auf Dauer nicht verborgen bleiben, dass wir hier einen archimedischen Punkt berühren, von welchem aus unsere abendländische Geisteshaltung aus ihren Angeln gehoben werden könnte.«[6]
Hesse schreibt in seiner Rezension von 1925 über die Wilhelmsche Übersetzung:
»Wenn man eine der Zeichenkombinationen anblickt, sich in Kiën, das Schöpferische, in Sun, das Sanfte, vertieft, so ist das kein Lesen, und es ist auch kein Denken, sondern es ist wie das Blicken in fließendes Wasser oder in ziehende Wolken. Dort steht alles geschrieben, was gedacht und was gelebt werden kann.«
Zu einem grösseren Interesse am I Ging kam es indessen vor allem in der englischsprachigen Welt nach der Zweitübersetzung von Wilhelms deutscher Übersetzung ins Englische 1950. Inzwischen ist seine Übersetzung in sämtliche westlichen Kultursprachen weiter übersetzt worden mit einer Gesamtauflage von mehreren Millionen. Damit ist es Wilhelms Verdienst, den chinesischen Klassiker zum Weltbuch, als das er angesehen werden muss, verholfen zu haben.
Gewiss kann man seine Übersetzung heute in mancherlei Hinsicht als überholt betrachten. Es zeigt sich darin eine teilweise stark patriarchalische Haltung, die so im chinesischen Urtext nicht zu finden ist. Dies hängt mit dem Zeitgeist anfangs des Zwanzigsten Jahrhunderts sowohl in China wie auch in Deutschland zusammen. Daher scheint mir, dass wir heute dazu aufgerufen sind, seine Pionierarbeit fortzusetzen.
Man kann schon ohne jegliche Übersetzung sehr viel über das Wesen eines Hexagramms erfahren, wenn man es sich zunächst ohne die Texte anschaut. Dazu muss man nur einige Grundprinzipien des Aufbaus kennen. Eines dieser Grundprinzipien besteht darin, dass sich das Hexagramm aus einem inneren, unteren und äusseren, oberen Trigramm zusammensetzt, das ein jedes auf das andere mit seiner spezifischen Energie einwirkt.
Sehen wir uns dies am Beispiel des Hexagramms Nr. 39,
Das Hemmnis an:

Es zeigt das Bild von Wasser auf einem Berg. Nun bedeutet dieser Berg innen einen Schutz, er birgt das seine in sich. Aussen ist Wasser, das Abgründige, die Gefahr. Man kann also schon daraus die Situation lesen: Ich sollte mich selbst schützen vor einer aussen drohenden Gefahr.
Nehmen wir nun ein zweites Grundprinzip hinzu. Das betrifft die so genannten Kernzeichen oder Kerntrigramme. Sie zeigen an, welcher Art sich das untere und obere Trigramm aufeinander beziehen. Nimmt man den 2., 3. und 4. Strich zusammen, so ergibt sich daraus wieder ein Trigramm, das »untere Kerntrigramm«. Hier erscheint nochmals das Trigramm Wasser:

Im 3., 4. und 5. Strich, dem oberen Kerntrigramm, zeigt sich das Trigramm Feuer oder Klarheit:

Daraus lässt sich ablesen, dass sich über dem sich schützenden Berg unmittelbar nochmals eine Wasser, eine Gefahr befindet. Das könnte dazu führen, dass man vor dieser unmittelbaren Gefahr die bedeutendere im äusseren Trigramm gar nicht mehr sieht. Anders ausgedrückt, könnte man in diesem Kernzeichen Wasser etwas wie die Angst vor der Angst sehen. Das obere Kernzeichen Feuer oder Klarheit kann als Hinweis angesehen werden: Schaue doch einmal der wirklichen Gefahr klar in die Augen, dann könntest du vielleicht Wege finden, wie du sie überwinden kannst.
Schaut man nun in die Texte, die dem Hexagramm beigegeben sind, lässt sich hierin einiges bestätigt finden. In den so genannten Bildworten, Wilhelm nennt diesen Text das Bild, heisst es: »Auf dem Berg ist Wasser: das Hemmnis. So kultiviert der Edle seine innere Kraft, indem er sich seiner eigenen Person zuwendet.«
Den Edle, der in diesen Bildworten meist genannt wird, kann man als denjenigen auffassen, der aus der Situation das Beste macht. Was hier mit »innerer Kraft« wiedergegeben wird, ist der Komplementbegriff zu Tao, dem Weg. Es ist sozusagen die Motivation, mein innerer Antrieb, damit ich mich auf meinen Weg mache.
Also geht es darum, dass ich zunächst ganz zu mir selbst komme, damit ich der Gefahr auch standhalten kann.
Im Kommentar zum »Urteil«, den Wilhelm »Kommentar zur Entscheidung« nennt, heisst es: »Hemmnis bedeutet Schwierigkeit. Die Gefahr ist vor einem. Sieht man die Gefahr und kann innehalten, so ist das wahrlich weise.«
Da findet man also eine Bestätigung des oberen Kernzeichens Feuer oder Klarheit: Es geht darum, die Gefahr zu
sehen.
Sehen wir uns ein weiteres Hexagramm an, das diesem ähnlich ist, und doch wiederum eine wesentlich andere Situation zeigt, das Hexagramm Nr. 53,
Die Entwicklung:

Es handelte sich um eine 63-jährige Frau, die an der Krankheit ALS (amyotrophische Lateralsklerose) litt. Bei dieser unheilbaren Krankheit tritt ganz allmählich eine immer weitergehende Lähmung auf, die an den Füssen beginnt, auf die Beine, dann auf Zunge, Arme und Rücken übergeht, bis schliesslich der Herzmuskel versagt. Dabei bleibt das volle Bewusstsein bis zum Schluss erhalten. Sie dauert 3-5 Jahre. Zur Zeit der Beratung war die Erkrankung schon soweit fortgeschritten, dass ihr das Essen und Sprechen einige Mühe machte. Ihre Frage an das I Ging lautete: Was ist der Sinn dieser ALS?
Ich erklärte ihr zunächst nur das Hexagramm, in der Art wie oben beschrieben. Diese Bilder hatten sie mehr und mehr beeindruckt. Zunächst war da einmal der Berg unten, der sagt: bleib bei dir, grenze dich ab, aber suche zugleich, Kraft aus dem Abgrund zu schöpfen. Denn wer eine Gefahr überwunden hat, wer durch den Abgrund hindurchgegangen ist, geht daraus gestärkt hervor. Das zeigt sich bildhaft im mittleren Yang-Strich des Abgründigen oben, dessen schöpferische Kraft es zu gewinnen gilt.
Die Reihenfolge, in der die 64 Hexagramme angeordnet sind, ist überaus sinnvoll. Sie verweist auf etwas wie eine natürliche Entwicklung von Situation zu Situation, die die einzelnen Hexagramme ausdrücken. Nach dem
Hemmnis kommt die Befreiung:

Hier ist das Wasser unten und oben der Donner, der durch seine Kraft nach aussen über die Gefahr hinaus gehen kann. Zugleich kann man darin das Bild eines Gewitterregens sehen, der von der bisherigen »dicken Luft« befreit. Der Frau sagte dieses Bild sehr viel, ging es doch wirklich um eine existentielle Befreiung. Am schwersten fiel ihr, völlig von anderen Menschen abhängig zu werden. Nie in ihrem Leben mochte sie dies.
Was die Frau schliesslich am meisten beeindruckte, war die Wandlung in die
Entwicklung mit dem Baum auf dem Berg: Da entsteht aus dem eigenen Berg heraus etwas Neues, das man sehen kann, ein Baum wächst hinaus! Sie war so überwältigt von diesem Bild, dass sie weinen musste.
Wie mir etwas später ihr Mann sagte, trug sie stets diese Bilder in ihrem Bewusstsein und sagte eines Tages: »Nun wachse ich in die geistige Welt hinein.« Etwa vier Monate später verstarb sie bei vollem Bewusstsein sehr gelöst.
Mir scheint, an diesem Beispiel zeigt sich, wie weit offen das I Ging sein kann. Mir kam diese Beratung wie eine ungebundene »Seelsorge« vor. Die Bilder aus dem I Ging wirkten gleichsam wie Stichworte, die sich in die persönliche Lebensgeschichte einweben liessen.


[1] Ging-Das Buch der Wandlungen, 27. unveränderte Aufl. Diederichs: 2000
[2] Frankfurter Zeitung, 7. Nov. 1928
[3] Man kann das Wort
shen, »Gottheiten« auch einfach mit »Geist« übersetzen, wie dies auch R. Wilhelm tut. Indessen hängt dann der ganze Satz in der Luft ? die chinesische Sprache unterscheidet nicht zwischen Ein- und Mehrzahl; op. cit. S. 253
[4]Vgl. die Ausführungen in Georg Zimmermann:
I Ging für Meister, Diederichs 2000, S. 23 ff.
[5]In der Wilhelmschen Übersetzung unter dem Titel »Die Grosse Abhandlung«, S. 260 ff.
[6]Zit. nach
Erfahrungen mit dem I Ging – Vom kreativen Umgang mit dem Buch der Wandlungen, hrsg. von Ulf Diederichs, Diederichs Gelbe Reihe: München 1992, S. 170
[7]Vgl. in der Wilhelmschen Übersetzung S. 292, in der Zimmermannschen S. 10


Homepage | Portrait | Adresse | Kursinhalte | Praktische Beispiele | Literatur | Artikel und Zitate | Auswahl Taoistischer Texte | Was ist das I Ging, was kann das I Ging ? | Site Map


Dr. phil.Georg Zimmermann - Eulerstrasse 77 - 4051 Basel - Tel. 061 691 11 39 | zimmermann.reihwa@sunrise.ch

Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü